Prof. Karl-W. Giersberg

Zahlungsunfähigkeitsprüfung nach dem Urteil des BGH vom 22. Juni 2022

von Prof. Karl-W. Giersberg

Wenn Kunden nicht zahlen: Forderungsausfälle versichern – Liquidität sicherstellen

Stand 23.11.2022

Der II. Senat am Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 28.06.2022 (BGH-Urteil II ZR 112/21) die Möglichkeiten zur retrograden Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit erweitert, aber gleichzeitig auch neue Fragen aufgeworfen und somit die Unsicherheit erhöht.

 


Ein wichtiges Thema in der aktuellen wirtschaftlichen Lage
Wie in der letzten Ausgabe „Informationen aus der Beraterpraxis“ versprochen, veröffentlichen wir hier eine ausführliche Stellungnahme unseres Sanierungsexperten, Prof. Dr. Karl-W. Giersberg.

Ein Verstoß gegen die Antragspflicht in Folge von Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) kann bei haftungsbeschränkten Unternehmen erhebliche zivil- als auch strafrechtliche Konsequenzen auslösen. Auftraggeber für eine retrograde Insolvenzreifeprüfung sind daher oftmals die Insolvenzverwalter oder die Staatsanwaltschaften.

Mit seinem Urteilen vom 24.05.2005 und vom 12.10.2006 hat der IX. Senates des BGH die Berechnung zur Zahlungsunfähigkeit präzisiert.1 Von einer Zahlungsunfähigkeit ist regelmäßig auszugehen, wenn die innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners 10 Prozent oder mehr beträgt. Auch dabei hat der BGH schon eine Öffnungsklausel eingefügt „….sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist“.2 Mit dem BGH-Urteil vom 19. Dezember 2017 hat der II. Senat auch für die retrograde Ermittlung angewandte zweistufige Verfahren weiter adjustiert.3

Das zweistufige Verfahren, bestehend aus einer Stichtagsaufnahme (Liquiditätsbilanz), i.e. das Verhältnis von Aktiva I zu Passiva I und einem prospektiven Teil (Finanzplan)4, i.e. das Verhältnis von Aktiva II zu Passiva II, hat sich m. E. durchaus bewährt und lässt sich ohne größere Schwierigkeiten auch retrograd anwenden. Falls das Verhältnis der gesamten Aktiva zu den gesamten Passiva weniger als 90 Prozent beträgt, wird Zahlungsunfähigkeit angenommen.

Der BGH hat schon mehrfach darauf hingewiesen, dass neben diesem Verfahren auch andere Verfahren zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit zulässig sind, wobei sich dann zwangsläufig die Frage ergibt, welches Verfahren superior ist.

In seinem Urteil vom 28.06.2022 vertritt der II. Senat des BGH die Auffassung, dass nichts dagegenspricht, dass zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl aufgestellt werden können. Weist der Liquiditätsstatus eine erhebliche Unterdeckung aus und kann die Liquiditätslücke an keinem der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tage die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden, dann liegt Zahlungsunfähigkeit vor.5
Unklar ist, was der BGH mit einem Liquiditätsstatus meint, da ein Status die Lage, die Situation oder den Zustand6 beschreibt. Nach Auffassung von Hermanns umfasst das neben der Liquiditätsbilanz auch eine auf den Stichtag folgende taggenaue Aufstellung der tatsächlichen Ein- und Auszahlungen für einen Zeitraum von drei Wochen.7

Im Unterschied zur bisherigen Auslegung sah der BGH von der Notwendigkeit ab, eine Hochrechnung der Liquidität innerhalb der dem Stichtag folgenden drei Wochen zu erstellen, weil der Kläger die Abgrenzung zur Zahlungsstockung nicht anhand einer Liquiditätsbilanz vorgenommen hat, sondern unter Darlegung der in den dem Stichtag folgenden drei Wochen vorhandenen Liquidität.8

Damit widerspricht der BGH seiner bisherigen Rechtsauffassung und stellt auf die tatsächlich vorhandene bzw. realisierte und nicht auf die zu erwartende Liquidität ab. Somit besteht die große Gefahr, das statische Betrachtungen mehr Anwendung finden. Es ist zu vermuten, dass es zu mehr Anfechtungen kommen wird, da der Nachweis der Zahlungsunfähigkeit künftig einfacher zu führen sein wird.9

Hauptsächlich wird aber verkannt, dass eine (erhebliche) Differenz zwischen erwarteten und tatsächlich eingetretenen Zahlungen bestehen kann. Insbesondere im Anlagegeschäft tätige Unternehmen erwarten oftmals größere Einzelzahlungen, deren Ausbleiben von erheblicher Bedeutung für die Liquiditätslage sind. Aber auch das Bekanntwerden einer Krisensituation hat für das betroffene Unternehmen erhebliche Liquiditätsauswirkungen. Gerade bei Einzelhändlern gehen die Umsätze bekanntlich stramm nach Süden, da Kunden wegen fehlender Garantieleistungen oder der Hoffnung auf günstigere Preise ihre Käufe reduzieren oder verschieben.
 

 

Ein Zuwarten ist immer mit Erwartungen bzw. Planwerten verbunden. Planungen, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen, sind immer mit Unsicherheiten verbunden, d.h. es gibt Abweichungen, wenn Erwartungen nicht eintreten. Es ist m. E. zwingend notwendig auch retrograd eine Abschätzung vorzunehmen, welche Zahlungen zu erwarten gewesen wären. Eine nur auf Ist-Zahlen basierende retrospektive Prüfung10 führt zu falschen Ergebnissen, zumal die retrograde Insolvenzreifeprüfung nur in den nicht erfolgreichen Fällen zur Anwendung kommt.

Diese retrograd zu bestimmen ist naturgemäß schwierig. Hilfsweise können die zu erwarteten Einzahlungen aus dem Umsatz und die nicht regelmäßig wiederkehrende Auszahlungen aus dem Materialaufwand abgeleitet werden.

Zudem stellt sich die Frage, ob ein Stichtag frei gewählt werden kann, da allein mit der Auswahl des Stichtages eine gewisse Ergebnisausrichtung erzielt werden kann.

Es ist sicherlich keine grundlegend neue Erkenntnis, dass es in Unternehmen Tage gibt, an denen die Liquidität turnusgemäß knapper bemessen ist, i.e. an den Steuerterminen bzw. Lohn und Gehaltszahlungen. Zwar reduzieren sich durch die Zahlungen auch die fälligen Verbindlichkeiten11, gleichwohl reduzieren sich in den Tagen um die Zahlungstermine auch die eigenen Zahlungseingänge, da auch die Debitoren mit knapperen Mitteln auskommen müssen.

In der InsO ist nicht ausdrücklich geregelt, welcher Zeitpunkt der Prüfungsstichtag sein soll. 12
Angesichts der besonderen Bedeutung einer Zahlungsunfähigkeit für das Unternehmen sollten die Grundlagen der rechnerischen Ermittlung klar und eindeutig sein. Das Ergebnis muss sich aber auch leicht ermitteln lassen. Dies ist aufgrund der fehlenden Kongruenz der handelsrechtlichen Buchhaltung mit den insolvenzrechtlichen Anforderungen nicht der Fall.13

Zudem wird in den Unternehmen nicht immer zeitnah gebucht, insbesondere bei Unternehmen, die ihre Finanzbuchhaltung, z.B. an den Steuerberater, ausgelagert haben.14

Bei einer (retrograden) Prüfung ist das Abstellen auf den Monatsabschluss zielführend, da dann alle relevanten Geschäftsvorfälle verbucht sein sollten.15 Darauf aufbauend ist dann die Drei-Wochen-Vorschau zu erstellen.16

Als Fazit lässt sich festhalten, dass der II. Senat des BGH mit seinem Urteil mehr offene Fragen als Antworten geschaffen hat. Ein Verzicht auf die planerische Komponente bei der (retrograden) Insolvenzreifeprüfung dürfte gerade bei den Unternehmen die ernsthaft um eine Weiterführung kämpfen, zu erheblichen Nachteilen führen.

 

 

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1BGH, Urteil vom 24. Mai 2005 - IX ZR 123/04 und vom 12. Oktober 2006 - IX ZR 228/03.
2BGH, Urteil vom 24. Mai 2005 - IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134, 145; Beschluss vom 27. Juli 2006 - IX ZB 204/04, BGHZ 169, 17 Rn. 16; Urteil vom 12. Oktober 2006 - IX ZR 228/03, ZIP 2006, 2222 Rn. 27 f.; Urteil vom 21. Juni 2007 - IX ZR 231/04, ZIP 2007, 1469 Rn. 37; Urteil vom 6. Dezember 2012 - IX ZR 3/12, ZIP 2013, 228 Rn. 19.
3BGH-Urteil vom 19. Dezember 2017 - II ZR 88/16.
4BGH, Urteil vom 28. April 2022 - IX ZR 48/21, WM 2022, 1287 Rn. 18.
5Vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2022, II ZR 112 / 21, Rn. 14.
6Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Status, Abfrage vom 15.09.2022.
7Vgl. Hermanns, M., Frenking, C., Zur retrograden Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, in: INDat Report 07_2022, S. 52. In Verbindung mit BGH, Urteil vom 28. April 2022 - IX ZR 48/21, WM 2022, 1287 Rn. 18.
8Vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2022, II ZR 112 / 21, Rn. 14
9Vgl. Steffan, B., Was gibt es Neues zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit? in: KSI 5 / 22, S. 231. Er weist zudem darauf hin, dass damit auch die 10 %-Grenze viel früher greift, weil Nenner und Zähler durch den Volumeneffekt der Liquiditätsbilanz nicht mehr aufgebläht werden.
10Wie u.a. von Gutmann gefordert. Vgl. Gutmann, T., Die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, in: NZI, 2021, 480. FG München, Beschluss vom 4. Mai 2010 – 13 V 540/10 –, Rn. 11, juris; ebenso Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, Stand: 22. Juni 2022, S. 11.

11Der vorher bereits erwähnte Volumeneffekt bleibt jedoch bestehen.
12Gutmann, T., Die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, in: NZI, 2021, 478.
13Gutmann, T., Die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, in: NZI, 2021, 475.
14Zu den Buchhaltungspflichten sei auf die Ausführungen von Gutmann verwiesen, vgl.: Gutmann, T., Die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, in: NZI, 2021, 476 und 478.
15vgl. Staufenbiel, P., Hoffmann, V., Die Ermittlung des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit – Teil 3, in: ZinsO 16/2008, S. 892.
16Der VID hat hierzu einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Er schlägt hierzu ein dreistufiges Verfahren vor, das de facto die Prüfung auf das Monatsende legt. Vgl.: VID Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands, VID-Empfehlungen zum Insolvenzrecht – Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit, Stand 22.06.2022, S. 7 ff..

 

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